Tuesday, April 22, 2014

News: Das Netz braucht eine Internet-Uno



Niemand kennt Jon Postel, aber eine Zeitlang war er der wichtigste Mann des Internets. Als die Urorganisationen des Internets im Umfeld amerikanischer Universitäten entstanden, wurde eine zentrale Adressverwaltung benötigt. Jemand musste festlegen, welcher Server unter welcher Adresse zu erreichen sei, damit man beispielsweise von überall auf der Welt unter spiegel.de SPIEGEL ONLINE erreicht und nicht etwa irgendetwas anderes.

Dieser jemand war Jon Postel, weil er Ahnung hatte und für sein freundliches, ausgleichendes Wesen bekannt war. 1988 war die digitale Vernetzung so relevant geworden, dass Jon Postels bloße Jonpostelhaftigkeit nicht mehr ausreichte. Jedenfalls nicht offiziell. Jon Postel bekam daher einen wohlklingenden Titel, nämlich IANA oder Internet Assigned Numbers Authority. Sonst änderte sich wenig bis 1998. Zu diesem Zeitpunkt war Yahoo schon seit drei Jahren an der Börse notiert.

Dann starb Jon Postel leider. Fast zeitgleich wurde ICANN gegründet, eine Non-Profit-Organisation, dem US-Handelsministerium unterstellt, die inzwischen die IANA umfasst und sich um die Verwaltung des Internets kümmert. Im März 2014 beschloss die US-Regierung, die Kontrolle über die Netzverwaltung irgendwie in international organisierte Hände abzugeben. Dieses "irgendwie international organisiert" heißt heute Internet Governance und teilt mit Jon Postel das Schicksal, dass sich praktisch nur Experten dafür interessieren.

Eine Art Internet-Uno

In der Woche nach Ostern sollte sich das ändern, und zwar durch eine Veranstaltung namens Netmundial. Auf Einladung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff soll darüber diskutiert werden, wie die Verwaltung des Internets in Zukunft geschehen soll. Bis hierhin ließe sich das als einer der vielen Fachkongresse abtun, deren Teilnehmer üblicherweise glauben, mit den wichtigsten Aufgaben der Welt befasst zu sein, während zwei Straßen weiter niemand davon auch nur ahnt.

Tatsächlich ist es hier anders. Eventuell. Denn auf diesem Kongress wird eine Art Internet-Uno vorbereitet. Nur nicht staatenbasiert, sondern auf Basis von Interessengruppen, nach einem sogenannten Multi-Stakeholder-Modell. Und deren Grundlagen werden maßgeblich über die Weiterentwicklung der digitalen Welt bestimmen. Es handelt sich also um einen Termin, bei dem die globale Netzöffentlichkeit sehenden Auges in eine Vielzahl von Messern hineinlaufen könnte - oder das Netz entscheidend voranbringen.

Ein lauwarmes Endergebnis

Der erste relevante Diskussionsbereich ist die Netzneutralität. Ohne Netzneutralität gerinnt das Internet zu einem von Providern durchkontrollierten Datenzoo, in dem man für jedes Streichelgehege extra Eintritt bezahlen muss. Hier zeigt sich ein Problem für eine künftige Internet-Uno: Die Unternehmen, die die Leitungen verlegen und vermarkten, wollen mehr Kontrolle über die Inhalte. Diesem Begehren wird man sich politisch energisch entgegenstellen müssen, und das geht eigentlich nur mit staatlicher Intervention.

Der zweite Bereich ist - natürlich - Edward Snowdens Enthüllungen geschuldet. Es ist kein Zufall, dass Brasilien zu Netmundial eingeladen hat, denn dort hat der fortdauernde Spähskandal durch die bekannten Geheimdienstkonglomerate zu größeren Verstimmungen geführt. Der Umgang mit der allgegenwärtigen Überwachung und die Wiederherstellung der derzeit inexistenten digitalen Privatsphäre ist die Aufgabe einer möglichen Internet-Uno. Oder vielmehr: müsste die Aufgabe sein. Denn das veröffentlichte Vorabpapier der Netmundial wurde so sehr abgemildert und entschärft, dass ein lauwarmes Endergebnis wahrscheinlich ist.

Die Kritik an dieser Entschärfung ist unter Netmundial.net formuliert, und schon die einhornorientierte und kätzchenreiche Gestaltung dieser Seite lässt wenig Zweifel: Hier rufen Netzaktivisten zum Kampf gegen Überwachung im Netz auf. Die Überwachung einzudämmen, das geht jedoch nur mit großer Unabhängigkeit von staatlichem Begehren.

Ein nie endender Auftrag

Hier offenbart sich das Grunddilemma für das Internet der Zukunft: Weder privatwirtschaftliche Hoheit noch staatliche Hoheit führen zu einem netzneutralen und überwachungsfreien Internet. Es bleibt: die Zivilgesellschaft. So wenig greifbar dieser Begriff erscheint, ist ein Zusammenschluss verschiedener ziviler Interessengruppen doch die einzige Möglichkeit. Im Idealfall werden sich Konzerninteressen und Staatenkontrolle gegeneinander ausspielen lassen. Im Unidealfall verbindet sich beides zu dem Amalgam aus Tiefenüberwachung und Radikalkommerzialisierung, auf das das Netz heute schon zusteuert.

Wenn also eine Art nichtstaatliche Internet-Uno entstehen sollte, wird ihre Aufgabe sein, die Interessen der Zivilgesellschaft in einer Internet-Charta zu formulieren und anschließend durchzusetzen. Ein ebenso existentieller wie superschwieriger und nie endender Auftrag.

Im Nachruf auf Jon Postel schrieb Vint Cerf, ebenfalls der Elterngruppe des Internets zugehörig: "Er war unser Fels ... immer da, um die vielfältigen Streitereien zu schlichten ... um schwierige Entscheidungen mit innerer Ruhe zu treffen ... jahrzehntelang unerschütterliche Dienste zu leisten ... immer den richtigen Kurs findend in einem komplexen Minenfeld von technischen und politischen Hindernissen." Eine neue Organisation für die Internet Governance hätte schon mal ein Vorbild. Immerhin.

tl;dr

Kontrolle und Regulierung des Internets sollen neu organisiert werden, gebraucht wird eine Art nichtstaatliche Internet-Uno.







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